Warum wir körperliche Nähe zum Leben brauchen
Eine liebevolle Umarmung, sanfte Streicheleinheiten, eine wohltuende Massage – solche Berührungen fühlen sich einfach wunderbar an. Mehr noch: Sie vermitteln Geborgenheit, Nähe, Wärme und dieses „alles ist gut“-Gefühl, das sich ganz plötzlich einstellt, sobald wir in den Armen unserer Liebsten versinken. Instinktiv spüren wir alle, dass wir auf Berührungen angewiesen sind und dass von ihnen eine besondere Kraft ausgeht. Wir wissen, dass Babys sich seelisch und körperlich nicht richtig entwickeln, wenn es ihnen an Hautkontakt mangelt. Und auch im Erwachsenenalter brauchen wir regelmäßig Zärtlichkeit und Zuwendung von anderen. Unsere Haut besitzt mehr als 250 Millionen Berührungsmelder, verteilt auf knapp zwei Quadratmeter, die unentwegt Reize über das Rückenmark an das Gehirn weiterleiten. Wir können ohne Augenlicht oder ohne Gehör überleben, doch niemand wird ohne Tastsinn geboren. Und vor allem: Wir können ihn nicht abstellen. Schon allein das zeigt, wie essentiell Berührungen für unser Menschsein sind.
„BERÜHRUNGEN SIND LEBENSMITTEL“, sagt der Psychologe und Tastsinn-Forscher von der Universität Leipzig, Martin Grunwald. „Wir brauchen sie, wie die Luft zum Atmen.“ Als einer von wenigen Wissenschaftlern in Europa erforscht Grunwald die Welt des Fühlens. Schon die kleinste liebevolle Berührung verändert den neurologischen Zustand fundamental. „Unser Gehirn befindet sich dann in einem anderen Aktivierungszustand. Mit der Folge, dass verschiedene Neurotransmitter wie Serotonin und Oxytocin ausgeschüttet werden. Diese gelangen dann in unsere Blutbahn, was dafür sorgt, dass die Ausschüttung von Stresshormonen unterdrückt wird, sich die Muskeln entspannen, die Herzfrequenz verlangsamt und der Blutdruck sinkt“, erklärt Grunwald. „KÖRPERBERÜHRUNGEN WIRKEN WIE EINE HAUSAPOTHEKE, DIE DAS IMMUNSYSTEM STÄRKT UND UNS GESUND ERHÄLT.“ Doch als Psychologe weiß er auch, dass es dafür den richtigen Menschen braucht. Jemanden, zu dem wir eine besondere Beziehung haben und bei dem wir uns fallen lassen können. „Mit dem Chef funktioniert das nicht, genau so wenig wie mit dem Smartphone“, sagt er. Hingegen in einer geschützten Umgebung, wie beispielsweise in Wellness-Einrichtungen, Massage- und Heil-Praxen, nehmen wir Berührungsangebote von Fremden dankbar an – mit den gleichen neurophysiologischen Effekten. Serotonin und Oxytocin werden umgangssprachlich auch als Wohlfühl- oder Kuschel-Hormone bezeichnet. Sie vermitteln uns das Gefühl, dass es uns an nichts fehlt, sie sorgen für das „Einssein“ mit sich und der Umwelt.
DOCH EIN BLICK AUF UNSERE WESTLICHE KULTUR zeigt, dass auf diesem Gebiet Defizite herrschen. Mehr als 17 Millionen Deutsche leben heute alleine, jeder Dritte gibt an, dass ihm intensive Umarmungen wichtiger sind als schneller Sex. Im Durchschnitt berühren wir die Touchscreens unserer Smartphones mehr als drei Stunden pro Tag, andere Menschen dagegen weniger als zehn Minuten. Wo es vor gut hundert Jahren bei vielen Familien noch üblich war, gemeinsam in einem Raum zu schlafen, verbringen Eltern und Kinder heutzutage die Nächte in getrennten Zimmern. Selbst die Kleinsten müssen die „unheimliche Nachtzeit“ oft alleine in ihren Betten überstehen. Und auch in langjährigen Partnerschaften kommen intensive Berührungen viel zu kurz. Zu groß ist die Verlockung von Facebook und Co., zu zeitraubend der Weg zur Arbeit, zu spannend das Fernsehprogramm am Abend. Grunwald vermutet, dass all dies im direkten Zusammenhang mit der wachsenden Anzahl seelischer Leiden wie Depressionen, Burn-Out, Essstörungen oder Suchterkrankungen stehen könnte: „Der Mangel an Nähe ist nach meiner Ansicht das größte Übel unserer Zeit. Betroffen sind alle Altersgruppen. Doch dieses Phänomen wird zu wenig reflektiert.“
WAS IMMER MEHR MENSCHEN ALLERDINGS SPÜREN, ist eine tiefe Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen können. Die Berliner Berührungs- und Tantra-Therapeutin Johanne Göttertz hilft ihren Klienten dabei, ihrer seelischen Suche auf den Grund zu gehen. „Ich erlebe immer wieder, dass die meisten von uns in ihrer Kindheit emotional nicht satt geworden sind.“ Gerade in einer Leistungsgesellschaft bleiben Sicherheit und Nestwärme vor allem im Erwachsenenalter auf der Strecke, glaubt sie. Sogar das Anfassen ist zu einem Leistungsakt geworden. Was zählt, ist die schnelle sexuelle Befriedigung, wodurch Sinnlichkeit und das wirkliche Hineinfühlen in den Partner nahezu unmöglich werden. „Da sitzen Frauen vor mir, die nach zwanzig Jahren Ehe sagen, ‘das kann doch nicht alles gewesen sein‘ und Männer, die sich endlich von ihrem dicken Panzer befreien wollen, welcher den inneren verletzten Jungen seit seiner Kindheit umschließt“, erzählt Göttertz. Bei ihrer Heilarbeit lässt die Therapeutin ihre Klienten durch spezielle Massagen spüren, was es heißt, berührt zu werden, ohne auf ein bestimmtes Ziel hinaus zu wollen. Dadurch erfahren viele zum ersten Mal, so sein zu dürfen, wie sie wirklich sind. „Diese plötzliche und manchmal unerwartete Verbindung zu sich selbst kann auch schmerzhaft sein“, erzählt sie. „Dabei können tief verschüttete Verletzungen hervorgeholt werden, die noch einmal durchlebt werden. Doch am Ende steht immer Heilung.“
WIE HEILSAM BERÜHRUNGEN SEIN KÖNNEN, ist wissenschaftlich schon lange belegt. Doch genau wie Johanne Göttertz als Therapeutin, beobachtet auch Martin Grunwald als Forscher, dass körperliche Nähe in unserem Alltag auf die falsche Weise sexualisiert wird. „Es wird unter Männern und Frauen eher akzeptiert, über One-Night-Stands und Tinder-Aktivitäten zu berichten, aber offene Äußerungen darüber, dass Mann oder Frau sich einsam und unterkuschelt fühlen, gelten oft als uncool“, sagt der Haptik-Experte. „Wir müssen lernen, darüber zu sprechen, wie wichtig Berührungen außerhalb von sexuellen Interessen für uns sind.“ Wie konnte es soweit kommen, dass solch etwas Essentielles derart verkümmert? Grunwald sagt dazu: „Wir leben in komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen. Hohe Arbeitsanforderungen und die permanente Präsenz technischer Informationsangebote rauben uns die Zeit fürs Wesentliche. Unsere körperliche Leistungsfähigkeit versuchen wir in Fitnessstudios zu optimieren. Streicheleinheiten, die in jedem Lebensalter die seelische und körperliche Gesundheit fördern, gibt es aber viel zu häufig nur im Rahmen sexueller Handlungen. Nicht selten übersehen wir, dass wir uns manchmal nur deshalb unwohl fühlen, weil uns lange niemand mehr in den Arm genommen hat. Doch von selbst findet keine Nähe statt. Deshalb sollten wir lernen, den nicht sexuell motivierten Berührungsbedürfnissen in unserem Leben ihren Platz einzuräumen. Das gilt für den Umgang mit Partnern, Eltern, Kindern wie in Freundschaften.“
WIE SCHWIERIG DAS MITUNTER SEIN KANN, erfährt Johanne Göttertz fast täglich in ihrer Praxis. Menschen, die zu ihrem Berührungs-Coaching kommen, wollen nämlich genau das: wieder richtig fühlen können. Nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst. Meist sind es Blockaden, Selbstzweifel oder alte Verletzungen aus der Kindheit, die sie daran hindern, sich wirklich zu öffnen. „Doch wenn ich merke, dass sich etwas bei ihnen löst und ich ihnen helfen kann, dann ist es für mich Magie. Magie in diesem Sinne bedeutet, dass das richtige Element – die bewusste Berührung –, zur genau richtigen Zeit im Menschen heilsam wirken kann.“ Nicht nur ihre Klienten, auch viele andere kommen nach und nach dahinter, dass Facebook nicht umarmen kann und dass Tinder nicht verzaubert. Ermüdet von der Dauerberieselung sexueller Anspielung durch Medien und Werbung holen sich immer mehr Menschen ihre Portion Nestwärme auf sogenannten Kuschelpartys. Was 2004 in New York angefangen hat, gibt es bereits in fast jeder größeren Stadt: Man trifft sich ein Mal im Monat, um sich gemeinsam für ein paar Stunden gemütlich ineinander zu knäulen. Ohne Hintergedanken, ohne Alkohol. Anfassen erlaubt, wer grabscht, fliegt raus.
WIR MENSCHEN, WIE ALLE SÄUGETIERE, sind Berührungs-Wesen. „Ohne Berührungsreize kann sich kein Mensch, kein Säugetier gesund entwickeln. Und ohne ein Mindestmaß an Berührung bleiben wir auch nicht gesund.“ Grunwald bezeichnet diesen elementaren Zusammenhang als Kontakt-Gesetz des Lebens. DER TASTSINN ENTWICKELT SICH BEI EMBRYOS bereits in der achten Woche, weit vor Augen und Ohren. Berühren heißt lebendig sein, berührt werden heißt, sich lebendig zu fühlen. Über unsere Haut treffen Innen- und Außenwelt aufeinander, auf ihr verbindet sich das Ich mit dem Du. Erst durch Berührung erfahren wir, dass wir sind und vor allem, dass unser Dasein Sinn hat. Trotz Kuschelpartys, Berührungs- Therapien und zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnissen fehlt es der visuell und informationsüberreizten Gesellschaft noch immer AM BEWUSSTSEIN WIE WICHTIG BERÜHRUNG FÜR DEN MENSCHEN IST.
„Neben der Liebe auf den ersten Blick gibt es auch die Liebe auf die erste Berührung. Und die geht vielleicht noch tiefer“, hat der russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov einmal gesagt. Damit hat er etwas Wesentliches auf den Punkt gebracht: Ohne Berührung ist das Leben nicht nur sinnlos, es ist gar nicht erst möglich. Und dieses Wissen ist weit älter als die Menschheit selbst.
Magazin BERLINERIN, Berlin 2017
Autorin Friederike Ostermeyer